Sammlung Pierre Maurice


Die erste Seite des ersten Manuskriptes der Sammlung,
eine Arie der Megaele aus dem dritten Akt der Oper Olimpiade von Pergolesi.

1936/37 vermachte die Witwe von Pierre Maurice, Komponist und Professor für Komposition an der Musikhochschule Genf, eben dieser Institution eine Sammlung handgeschriebener Partituren italienischer Opernmusik aus dem 18. Jahrhundert, die sich im Nachlass ihres 1936 verstorbenen Gatten befanden.

Durch puren Zufall gelangte ich zusammen mit Leonardo Garcia-Alarcon in Kenntnis dieser Sammlung. Auf der Suche nach historischen Dokumenten zur Praxis des Generalbasses in Italien und speziell in Neapel bekamen Leonardo und ich von einem ehemaligen Bibliothekar der Musikhochschule Genf den Hinweis, dass im Magazin der Bibliothek eine Sammlung von “handgeschriebene italienische Noten” aufbewahrt seien, mit denen sich noch niemand ausführlicher befasst habe. Der erste in Augenschein genommene Band enthielt–eine Generalbasschule, verfasst von einem "Giuseppe Dol", dem vermutlich bömischen Organisten Joseph Doll, wie sich nach kurzer Recherche herausstellte, der um 1770 in Neapel tätig gewesen war. Neben Erwähnungen als "Maestro secondo" am Neapolitaner Konservatorium (der erste Meister war Francesco Durante) taucht er auch in den Briefen des jungen Mozart auf, der zusammen mit seinem Vater bei ihm in Neapel zu Gast war. Und so waren wir umso neugieriger, was der “Rest” des guten Regalmeters noch an Schätzen enthalten würde.

Die Sammlung besteht aus 142 handgeschriebenen Partituren (Rezitative und Arien), die in 16 Bänden zusammen gefasst und nach Komponisten geordnet sind. Die verschiedenen Manuskripte im Querformat typischer Notenhefte sind in einfacher Bindung aneinander gereiht. Drei weitere, inhaltlich etwas abseits stehende Bände enthalten Partimenti, die bereits erwähnte Generalbassschule und eine Musiktheorie. Letztere ist in französisch verfasst und mit einer Widmung versehen. Inhaltlich und vom Augenschein scheint sie abseits der übrigen Sammlung zu stehen. Insgesamt enthält die Sammlung etwas über fünftausend Mansukriptseiten, 63 Manuskripte sind datiert, wobei diese Daten offensichtlich die Erstellung der Kopie angeben, nicht das Jahr der Komposition oder Erstaufführung des Werkes (was jedoch bei einigen Manuskripten zusammen fällt). Der überwiegende Rest liess sich anhand von Werk- und Aufführungslisten historisch belegten Aufführungen zuordnen und damit ebenfalls datieren. Die Daten reichen von 1760 bis 1785 mit deutlicher Häufung von 1768 bis 1773.

Der Bestand der Sammlung liess sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück verfolgen, wo sich offensichtlich zumindst ein Teil im Besitz des Barons von Chambrieux befand, der zu dieser Zeit das Amt des preussischen Gouverneurs in Neuchâtel (CH) inne hatte. Verschiedene Eintragungen lassen jedoch erkennen, dass die Sammlung bereits davor durch andere Hände gegangen war und vermutlich als solche zumindest in Teilen schon in dichtem zeitlichen Abstand nach Anfertigung der Kopien zusammen gestellt worden war. Die Sammlung enthält vornehmlich Abschriften von Arien aus Opern, ausschliesslich in italienischer Sprache, die grösstenteils um 1770 von professionellen Kopisten angefertigt wurden. Die in der Sammlung vorhandenen Werke lesen sich wie ein Querschnitt durch die zu jener Zeit in Italien erfolgreich aufgeführte Opern-Literatur.

Die Manuskripte stammen von unterschiedlichen Orten und Schreibern, die zusammenfassende Bindung ist erst nach Zusammentragen der Sammlung entstanden. Jedes Manuskript befindet sich in einem eigenen Heft; kein Heft enthält mehr als ein Manuskript. Zwischen die Hefte sind mit Wasserzeichen versehene Einlegeblätter eingefügt. Oben ist die erste Manuskriptseite des ersten Bandes gezeigt, eine Arie der Megaele aus dem dritten Akt der Oper Olimpiade von Pergolesi. Wir erkennen neben der Handschrift des Kopisten weitere Eintragungen von verschiedenen Händen, die uns über die Sammlung hinweg immer wieder begegen.


Einband des ersten Bandes.

Die Einbände bestehen aus starkem Karton und sind wie bei den meissten Bänden in geschwärztes Papier gebunden, das sich bei näherem Betrachten als nicht paginierte Buchseiten zu erkennen gibt, vermutlich ein Fehldruck, der aus der Druckerpresse direkt ins Altpapier gewandert ist. Die Texte auf dem Umschlag-Papier erwähnen unter anderem Pestalozzi und eine Druckerei in Neuchâtel. Die Bindung kann damit auf nach 1800 datiert werden. Die Bände tragen ein Etikett in geschwungener Form, das den Inhalt zusammenfasst. Die Handschrift darauf lässt Pierre Maurice als Schreiber vermuten.


beim Binden eingelegtes Zwischenblatt

Dieses Zwischenblatt befindet sich am Anfang des ersten Bandes, direkt vor der oben gezeigten Arie. Auf dem jeweils ersten Einlegeblatt jedes Bandes erkennen wir stets dieselben Eintragungen. Alle Bände sind von Pierre Maurice mit seinem vollen Namen signiert. Neben zwei durchgestrichenen alten findet sich die neue Signatur der Bibliothek der Musikhochschule Genf, sowie der Stempel deren Bibliothek. Des weiteren tragen viele Einlegeblätter einen auf Französisch verfassten Kommentar zum Werk und dessen Komponisten, das nach diesem Einlageblatt folgt. Diese Kommentare sind stets mit Bleistift geschrieben und stammen erkennbar nicht von Pierre Maurice. Die Eintragungen dürften also gegen Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sein. Des weiteren finden wir gelegentlich Werkangaben und Kommentare von Pierre Maurice auf diesen Seiten. In einigen erwähnt er einen “Professor Lorenz”, Alfred Lorenz, in München lebender und mit Pierre Maurice befreundeter Musikwissenschaftler. Einerseits könnte man diesen als Autoren der Bleistift-Notizen ansehen, andererseits, warum sollte er diese auf französisch verfasst haben. Pierre-Maurice hat sich lange Jahre in Deutschland aufgehalten und hätte es nicht nötig gehabt, dass man ihm solche Informationen auf französisch übermittelt.

Die Bände der Sammlung sind nach Komponisten geordnet, drei ganze Bände umfassen Werke von Niccolo Jomelli. Pasquale Anfossi und Niccolo Piccini sind mit je zwei Bänden vertreten, Giovanni Paesiello mit eineinhalb Bänden, Carlo Monza und Antonio Sacchini mit jeweils einem. Zahlreiche weitere Komponisten sind mit nur einem oder einigen wenigen Manuskripten vertreten. Der letzte Band der Manuskriptsammlung (Band 16) enthält eine komplette Oper von Ferdinando Bertoni. Band 17 und 18 enthalten die Generalbass-Schule von Giuseppe Dol (Joseph Doll) und Sonaten für zwei Celli, sowie Cembalo-Sonaten von Leonardo Leo, als Partimenti notiert. Band 19 schliesslich enthält eine auf französisch verfasste Musiklehre mit einer Widmung an "Monsieur Favre ... fils". Dieser Band fällt sowohl zeitlich als auch von der Bindung her aus dem Rahmen der Sammlung. Allerdings ist das Wasserzeichen des Papiers wiederum identisch mit dem der aus Venedig stammenden Kopien und kann einer Papiermühle aus Basel zugeordnet werden. Die Bände 17 und 18 sind zwar ebenfalls anders eingebunden als der Grossteil der Sammlung, jedoch hat wiederum Band xx denselben Einband wie diese beiden, gehört aber inhaltlich eindeutig zum Rest der Sammlung.

65 der–-je nach Zählung–-142 Manuskripte tragen Datum und Ort, acht weitere nur den Ort, für den die Kopie angefertigt worden ist. Mit Abstand die meisten der signierten Manuskripte stammen aus Neapel, dann folgen Rom und Venedig. Die früheste Kopie stammt aus dem Jahr 1762, die letzte aus dem 1785 (mit 13 Jahren Abstand zu den übrigen). Die grösste Anzahl wurde um 1770 angefertigt.

Napoli45
Roma18
Venezia6
Milano2
Firenze1
Parma1
Torino1

Die undatierten Manuskripte lassen sich anhand von Werk- und Aufführungslisten ebenfalls grösstenteils datieren. Es ergibt sich ein ähnliches Bild.

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