Bewertung von wissenschaftlichen Arbeiten

Dieser Tage war ich einigermassen erstaunt, als ich von einem kurz vor dem Abschluss seiner Arbeit stehenden Doktoranden erfuhr, nach welchen Kriterien die Stipendien des Schweizer Nationalfonds für Forschung für sogenannte "early Postdocs" nach ihrer Promotion vergeben werden. Ein fachfremder Professor ("referee") der Universität des Kandidaten erhält das Gesuch und führt ein Interview mit ihm durch. Aufgrund seines Rapports über Gesuch und Interview entscheidet dann die Kommission, keine Begutachtung durch fachkundige Wissenschaftler.

Das kommt mir doch sehr merkwürdig vor. Zwar halte auch ich es durchaus für wichtig, Personen ausserhalb des eigenen Faches sein Arbeitsgebiet erläutern und die Wichtigkeit der eigenen Arbeit plausibel machen zu können. Und es ist sicher eine gute Idee, Kandidaten darauf "abzuklopfen", ob sie über den Tellerrand hinausblicken und ihre eigene Arbeit in einen grösseren Rahmen stellen können. Wer das nicht kann, bei dem sind die Chancen, zum wirklich produktiven Wissenschaftler zu werden, vermutlich eher klein. Aber die fachliche Substanz eines Gesuches gar nicht ernsthaft zu prüfen, scheint mir für eine Institution zur Förderung der Wissenschaft ein doch eher fragwürdiges Vorgehen zu sein. Dadurch kann ja im Grunde nur noch weiter befördert werden, was in den letzten Jahren immer mehr zum Problem geworden ist. Es wird nur noch auf die "Verkaufsqualitäten" geachtet, Impactfaktoren und Rankings gezählt usw. Um es klar zu sagen, die fachliche Qualität eines Wissenschaftlers kann man nur beurteilen, wenn man seine Arbeiten beurteilen kann. Und die Qualität einer Arbeit kann man nur beurteilen, wenn man sie gelesen und verstanden hat. Dasselbe gilt für Gesuche. Eine Arbeit (ob sie nun dem Bereich der Wissenschaft entstamme oder nicht) beurteilen zu wollen, ohne sie zu lesen, einen Autoren beurteilen zu wollen, ohne seine Werke zu kennen, wie soll das gehen? Wer wenn nicht wir Wissenschaftler können unsere Kollegen und unseren Nachwuchs fachkundig beurteilen? Wenn auch wir an Stelle wissenschaftlicher nur noch formale und fachfremde Kriterien anwenden, erkennen wir uns den Rang als ernsthafte Wissenschaftler selbst ab.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass Doktoranden heute die meiste Zeit ihrer Promotion damit verbringen, möglichst viele Dinge zu produzieren, die sich in als angesehen geltenden Zeitschriften publizieren lassen, möglichst als "Erstautor", d.h. am liebsten auch ohne weitere Kollegen, damit die Position als Erstautor nicht in Gefahr gerät. Wen kann es da noch verwundern, dass die Zahl der Publikationen ohne Substanz, gar mit elementaren Fehlern--auch in "angesehenen" Zeitschriften--stetig zunimmt? Woher soll es am Anfang der Laufbahn und ohne Erfahrung im wissenschaftlichen Arbeiten auch kommen? Unsereins hätte es sicher auch nicht besser gekonnt. In der Folge gilt heutzutage schon das Eingeben von Startwerten in Simulationsprogramme und die grafische Darstellung der Resultate als publizierbare wissenschaftliche Leistung, auch wenn man an der Entwicklung der Funktionsweise der benützten Programme mitnichten beteiligt war. Genauso gilt als publizierbar, eine Probe in ein Messgerät zu stellen, das Steuerprogramm zu starten, die Ergebnisse durch eine Software zum Auswerten mit vorgefertigt einprogrammierten Modellen zu schicken und die Ergebnisse schön ansehbar darzustellen, auch wenn man weder die Funktionsweise der experimentellen Apparatur noch die benützte Auswert-Maschinerie versteht.

Ich halte dies für eine dramatische Fehlentwicklung. Der Experimentator sollte verstehen, wie sich die Funktionsweise seiner Mess-Apparatur und ihre Justage auf die erhaltenen Ergebnisse auswirkt. Wie soll er sonst abschätzen können, wie relevant seine Daten in Bezug auf die Modelle sind, die er zur Beschreibung heranziehen will? Wer garantiert sonst die Stichhaltigkeit der Ergebnisse? Und der auf dem Gebiet der Theorie Arbeitende sollte verstehen, wie und warum die benützten Modelle und Simulationsverfahren entwickelt wurden und wie sie funktionieren, damit er die Relevanz der erhaltenen Aussagen abschätzen kann. Wer diesen Stand nicht erreicht hat, dürfte eigentlich nie als Erstautor einer Publikation auftreten.

Woher kommt es dann, dass die geforderten Publikationen von den sie Fordernden offenbar nicht einmal gelesen werden? Vermutlich, weil niemand damit nachkäme. Es wäre im Sinne aller Beteiligten, diesen sich um sich selbst drehenden Unsinn einfach sein zu lassen, da er schlicht unproduktiv ist und seinen angeblichen Zweck allzu offensichtlich nicht erfüllt. Als unsereins promoviert hat, und so lange ist das auch nicht her, war man froh, wenn sich am Ende der eigene Name auf ein oder zwei Publikationen befand, zu denen man beigetragen hatte. Das hat zu Zeiten sehr gut funktioniert und würde es auch heute noch. Der heutige wissenschaftliche Nachwuchs ist nicht schlechter als der früherer Zeiten, wir alle haben einmal grün hinter den Ohren angefangen. Um die ungeheure Menge an Arbeitszeit, die enormen aufgewendeten finanziellen Mittel und die vergeudete Kreativität und Motivation ist es jammerschade. Wir leisten uns eine Ressourcen-Verschwendung sondergleichen. Eine Klimawende in der Wissenschaftswelt wäre dringend angesagt.